Der Seele Raum geben: Heilende Umgebung in der Psychosomatik

Haben Sie schon von dem Begriff Healing Environment gehört? Höchstwahrscheinlich noch nicht, denn das Konzept ist in Deutschland aktuell noch ziemlich neu. Es birgt aber unheimliches Potential für die Psychosomatik. Erfahren Sie, was sich hinter dem Begriff verbirgt und wie unsere Umgebung unsere Psyche beeinflusst.

Healing Environment – Einfluss auf psychische Erkrankungen

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer Krise, an einem Scheidepunkt in Ihrem Leben oder in einem schwierigen Entscheidungsprozess. Wohin zieht es Sie eher? In das laute, chaotische Gewühl der Stadt, auf zubetonierte Plätze mit Blick auf den Straßenverkehr? Oder eher ins Grüne, in die Stille des Waldes oder in Ihre vertrauten vier Wände?

Den meisten fällt es vermutlich leicht, sich für letzteres zu entscheiden. Intuitiv wissen wir, welche Umgebung uns in schwierigen Situationen gut tut. Immer mehr sickert es zu Medizinern, Architekten und Stadträten durch, dass Kliniken sich dies zu Nutze machen sollten.

Von steriler Krankenhausumgebung zu persönlicher Atmosphäre

Das typische Krankenhaus unserer Zeit ist aufgrund des Kostenfaktors funktional, mit möglichst vielen Betten ausgestattet und hat meist weiße, sterile Wände. Wenn ein kleiner Garten vorhanden ist, dient dieser vorrangig als Raucherecke. Um die Klinik herum wachsen wenige Bäume und auf den Stationen gibt es oft so gut wie keine Pflanzen oder Bilder. Bis zum nächstgelegenen Park oder Grünanlage können einige Meter anfallen und somit sind sie nicht für alle Patienten zu erreichen.

Natürlich stehen bei großen Häusern kostenbedingt andere Kriterien im Fokus, doch die Healing Environment-Bewegung möchte genau dies ändern. Die unpersönliche Krankenhausatmosphäre soll verändert und Kliniken in Umgebungen errichten werden, die die Gesundheit der Patienten fördern.

Ein Blick ins Grüne

Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die Umgebung auf unsere Genesung auswirkt. Können Patienten vom Krankenbett aus dem Fenster ins Grüne gucken, dann erholen sie sich schneller (Richter et al., 2014). Dies gilt gleichermaßen für Patienten mit körperlichen als auch für Patienten mit psychischen Erkrankungen. Ein Aufenthalt in der Natur oder in einem Garten kann heilsam sein, in manchen Kliniken wird sogar eine spezielle Gartentherapie angeboten! In der Natur können wir zu unseren Wurzeln zurückfinden, Kraft tanken und zur Ruhe kommen.

Healing Architecture

Nicht nur die Umgebung von Kliniken spielt bei psychischen Erkrankungen eine Rolle, sondern auch die Architektur des Gebäudes. Roger Ulrich gilt als ein Vorreiter der Healing Architecture und beschreibt in einem Essay folgende Faktoren für eine optimale Gebäudegestaltung:

  • Licht
  • Frische Luft und Raumklima
  • Platz und Raumaufteilung
  • Akustik und Lautstärke
  • Haptik der Raumausstattung
  • Farben
  • Laufwege
  • Geruch

Durch große Fensterfronten oder Deckenlichter kann Tageslicht in die Kliniken gelangen. Für Frischluftzufuhr kann durch ein ausgeklügeltes Belüftungssystem gesorgt werden. Licht und frische Luft brauchen wir nicht nur, um uns wohlzufühlen, sondern auch, um effektiv zu arbeiten. Studien belegen den positiven Einfluss von Helligkeit und Wärme des Lichts auf die Produktivität beim Arbeiten. Vergessen Sie nicht, auch die Genesung bei psychischen Erkrankungen ist eine arbeitsreiche Aufgabe!

Überraschende Erkenntnisse der Healing Architecture

Dass Tageslicht und frische Luft förderlich für die Gesundheit sind, mag Sie nun vielleicht nicht so sehr verwundert haben. Doch welche eher überraschenden Aspekte spielen noch eine wichtige Rolle, damit wir uns an einem Ort wohlfühlen? Wir Menschen haben beispielsweise empfindliche Sensoren für das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz. Das heißt, Räume, in denen Menschen in Kontakt zueinander treten, sollten so aufgeteilt sein, dass für alle Beteiligten der passende Abstand herrscht. Dies gilt für Sprechzimmer von Ärzten und Therapeuten, für Gruppentherapieräume, Ruheräume und Patientenzimmer.

Zwingt uns eine Umgebung beispielsweise dazu, dicht beieinander zu stehen, fühlen wir uns meist unbehaglich. Gleichzeitig verhindert ein zu großer Raum jedoch die direkte Kontaktaufnahme und einen persönlichen Austausch, sowie den Aufbau eines vertraulichen Verhältnisses zueinander. Die richtige Mischung ist hier entscheidend!

Weitere Faktoren für die optimale Gestaltung von Therapieräumen, Patientenzimmern und Gruppenräumen besonders bei psychischen Erkrankungen sind die Akustik und das Raumklima. Hallende, blecherne Akustik erzeugt in uns ein Störgefühl, ebenso zu warme oder zu kalte Räumlichkeiten (Wieber et al., 2016). Die Lärmbelastung sollte möglichst gering gehalten und der Richtwert von 40dB nicht überschritten werden (Nickl-Weller et al., 2007).

Auch das Miteinander der Patienten kann durch die Architektur gefördert werden. Große, helle Aufenthaltsräume laden zum Austausch mit anderen Betroffenen ein und verhindern so Isolation und Einsamkeit. Die Zimmer hingegen sollten Privatsphäre ermöglichen. Laut Ulrich sind Einzelzimmer Mehrbettzimmern vorzuziehen.

Eine Oase der Gesundheit

Wussten Sie, dass sterile, weiß gestrichene Untersuchungsräume nachweislich zu Stress und Bluthochdruck bei den Patienten führen (Ulrich et al., 1991)? Die Farbenlehre hat interessante neue Forschungsergebnisse geliefert: Die Farbe Blau hat positive Auswirkungen auf unsere Emotionen, die Herzschlagrate und unsere Leistungsfähigkeit (AL-Ayash et al., 2016).

Das Farbkonzept der Räume in Krankenhäusern kann also so angepasst werden, dass es die Genesung der Patienten fördert. Die Laufwege in Krankenhäusern sollten möglichst kurz und gut beschildert sein. Orientierungslosigkeit mag niemand gerne und vor allem in Zeiten von Krankheit kann eine klare Architektur uns Geborgenheit vermitteln.

Auch an die Angehörigen sollte gedacht werden. In den Zimmern und auf den Stationen muss genügend Platz sein, um Besuch zu empfangen. Ruhige, gemütliche Sitzecken auf den Fluren können zum Verweilen einladen. In einem großen, verwinkelt angelegten Garten können die Patienten eine Auszeit vom Klinikalltag genießen und tief durchatmen.

Sie merken, die Krankenhäuser der Zukunft werden anders aussehen, als Sie es vor Augen haben. Wie die deutsche Autorin und Innenarchitektin Sylvia Leydecker in ihrem Buch „Das Patientenzimmer der Zukunft“ voraussagt, werden die Kenntnisse der Healing Architecture nach und nach Einzug in das deutsche Gesundheitswesen halten.

Therapie in Wohlfühlumgebung

Insbesondere Menschen mit psychischen Erkrankungen profitieren von einer ruhigen und heilsamen Umgebung. Vor allem bei Burnout oder Depressionen hat eine stressige Umgebung erst zur Entstehung der Krankheit beigetragen. Betroffene brauchen den Raum und die Ruhe, ihrer Seele und Psyche wieder Halt zu geben. Angstpatienten profitieren von einer reizarmen Umgebung, die Sicherheit vermittelt. Patienten mit Essstörungen lernen in einer ruhigen Atmosphäre, ihr Essverhalten wieder zu stabilisieren.

In einem aktuellen wissenschaftlichen Review kommen noch weitere Aspekte speziell für psychosomatische Einrichtungen hinzu. So kann beispielsweise eine offene Gestaltung der Rezeption ein Gefühl des Willkommen seins vermitteln oder ein simpler Aufbau des Gebäudes die Orientierung erleichtern und dadurch Sicherheit vermitteln (Fricke et al., 2018). Man kann also sagen, die Therapie psychischer Erkrankung braucht nicht nur Zeit, sondern auch Raum. Und dieser Raum sollte möglichst heilsam gestaltet sein!

Meine eigene Oase schaffen

Wir können die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht nur bei psychischen Erkrankungen, sondern auch ganz persönlich für uns und unser grundlegendes Wohlbefinden nutzen. Zunächst können wir unser Zuhause möglichst angenehm für uns gestalten. Warmes Licht, gemütliche Atmosphäre, ruhige Ecken zum Zurückziehen und Kuscheln… Viele Kleinigkeiten erhöhen den Wohlfühlfaktor.

So können Sie zum Beispiel beim Kauf von LED-Lampen auf warmweißes Licht achten oder am Abend öfter auf Kerzenlicht zurückgreifen. Regelmäßiges Stoßlüften und Wasserschalen auf Heizungen sorgen für ein angenehmes Raumklima. Kissen, Decken und Teppiche können eine Wohnung direkt ohne großen Aufwand gemütlicher machen.

Da wir aber auch viel Zeit des Tages auf der Arbeit verbringen, sollten wir dort ebenfalls auf möglichst gute Raumbedingungen achten. Wie wäre es, wenn Sie Ihren Schreibtisch ein wenig persönlicher gestalten oder sich ein wenig mehr Platz schaffen? Ihren Ideen sind keine Grenzen gesetzt! Stellen Sie sich vor, Ihre Gesundheit sei eine Pflanze, die optimale Umgebungsbedingungen braucht, um zu wachsen und zu gedeihen. Sie selbst sind dabei der Gärtner und haben die Gestaltung der Umgebung in der Hand.

Mehr Infos gewünscht?

Für alle, die das Thema heilende Umgebung und heilende Architektur gepackt hat, bieten sich TED-Talks zur weiteren Information an. In TED-Talks berichten Wissenschaftler kurz und spannend über ihre Forschungsthemen. Außerdem haben sich Unternehmen wie z.B. Kopvol auf heilende Baukunst spezialisiert und designen z.B. Kinderkliniken oder Chemotherapie-Zentren, die das Konzept Healing Environment verinnerlichen. Ein Blick über den Tellerrand hinaus lohnt sich alle mal!

Quellenangaben

(1) AL‐Ayash, A., Kane, R. T., Smith, D., & Green‐Armytage, P. (2016). The influence of color on student emotion, heart rate, and performance in learning environments. Color Research & Application, 41(2), 196-205.

(2) Fricke, O. P., Halswick, D., Längler, A., & Martin, D. D. (2018). Healing Architecture for Sick Kids. Zeitschrift für Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.

(3) Leydecker, S. (2016) Das Patientenzimmer der Zukunft. Innenarchitektur für Heilung und Pflege. Birkhäuser. Köln.

(4) Nickl-Weller, C., Eichenhauerr T., Matthys S., (2007). Health Care der Zukunft 4. Healing Architecture. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsges.Berlin.

(5) Richter, D., & Hoffmann, H. (2014). Architektur und Design psychiatrischer Einrichtungen. Psychiatrische Praxis, 41(03), 128-134.

(6) Ulrich, R. S. (1991). Effects of interior design on wellness: Theory and recent scientific research. Journal of health care interior design, 3(1), 97-109.

(7) Ulrich, R. S. (2006). Essay: Evidence-based health-care architecture. The Lancet, 368, S38-S39.

(8) Wieber, F., Windlinger Inversini, L., Konkol, J., & Conrad, N. (2016). Lebensraum Arbeitsplatz: über den Einfluss von Architektur und Raumgestaltung im Arbeitskontext. Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 2016(4), 94-97.

Kategorien: Therapie

Verena Klein
Autor Verena Klein
"Die LIMES Schlosskliniken haben sich auf die Behandlung von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen spezialisiert. Mit Hilfe des Blogs möchten wir als Klinikgruppe die verschiedenen psychischen Erkrankungen näher beleuchten und verschiedene Therapien sowie aktuelle Themen vorstellen."

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