von Dr. Gerhard Hofweber
Die Beiträge zur Philosophie der psychischen Gesundheit reflektieren unser Gefühlsleben, seine Störungen und seine Ordnung aus einer philosophischen Perspektive heraus. Die philosophische Betrachtung eröffnet neue Blickwinkel, lädt uns ein, bekannte Dinge neu zu betrachten und somit uns und die Welt neu kennen zu lernen.
Sie kann einen therapeutischen Prozess nicht ersetzen, aber sehr wohl unterstützen und damit sehr hilfreich für Ihren individuellen Erkenntnis- und Genesungsprozess sein.
Die grundsätzlichen Hemmungen der Versöhnung mit der Vergangenheit
In den vorhergehenden Beiträgen zur Philosophie der psychischen Gesundheit habe ich versucht zu zeigen, dass ein erfülltes Leben nur möglich ist, wenn wir mit der Vergangenheit versöhnt sind. Die Versöhnung aber besteht in einem erkennenden Sich-Hingeben an die Wahrheit.
Was wir jetzt betrachten wollen, sind die Hemmungen, welche uns bei dem Versuch der Versöhnung entgegenstehen. Denn man muss sich Folgendes klarmachen: Jeder Mensch wünscht sich mit der Vergangenheit versöhnt zu sein, aber nicht jeder Mensch will dies. Was macht den Unterschied zwischen Wünschen und Wollen aus, auf welchen es hier ankommt? Dies zu bestimmen ist nicht leicht. Denn das Ziel ist ja in beiden Fällen das gleiche, in unserem Fall die Versöhnung. Insofern könnte man sagen, dass beide das gleiche wollen. Damit würde der Unterschied aber komplett aufgelöst werden. Genau diesen Unterschied wollen wir aber herausarbeiten.
Der berühmte deutsche Philosoph Immanuel Kant bestimmt ihn so, dass zum Wollen gehöre, dass man alle zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, um sein Ziel zu erreichen. Dies erinnert an den griechischen Philosophen Aristoteles, welcher sagt, dass wer das Ziel will, auch die Mittel will. Genau dies versteht er unter Notwendigkeit. Für unseren Fall würde das bedeuten, dass niemand die Versöhnung mit der Vergangenheit wollen muss. Wenn er sie aber will, muss er die dafür notwendigen Schritte unternehmen.
Wollen bedeutet dann, alle mir zur Verfügung stehenden Mittel auch einzusetzen, welche die Sache notwendig erfordert, damit sie gelingen kann. Wer etwas will, handelt auch, wohingegen derjenige, welcher sich etwas wünscht, vollkommen untätig bleiben kann.
Philosophisch lässt sich das Wünschen wie folgt definieren: Wünschen ist die Vorstellung eines Wollens.
Vielleicht erscheint diese Bestimmung zu abstrakt. Betrachten wir die Sache einmal konkreter. Falls Sie psychisch erkrankt sein sollten und den Entschluss gefasst haben, sich in Behandlung zu begeben, sind Sie bereit, sich auf einen Heilungsprozess einzulassen. Dabei ist es egal, ob Sie an Burnout, Depression, einer Angststörung oder einer Persönlichkeitsstörung erkrankt sind. Wenn Sie sich jetzt in eine Klinik begeben, dort ein healing environment und kompetente Psychiater und Therapeuten vorfinden, sind Sie zwar in den besten Händen, aber Ihr eigener Weg wird möglicherweise kein leichter sein. Im therapeutischen Prozess können Erinnerungen hochkommen, an welche Sie vielleicht nicht denken wollen. Vielleicht überfluten Sie Emotionen, welche Ihnen unangenehm sind und welche Sie nicht fühlen wollen. Vielleicht bemerken Sie, dass Sie gewisse Gedankengebilde aufgeben müssen, um heilen zu können. Vielleicht ereilt Sie eine schreckliche Angst und Sie fühlen sich überfordert. Dies alles kann Sie vor große Herausforderungen stellen. Ob Sie die Heilung nun tatsächlich wollen oder sich nur wünschen hängt davon ob, ob Sie bereit sind, trotz aller Beschwerlichkeit durch den Prozess hindurch zu gehen.
Erst dann, wenn es schwer wird, wenn ich mich überwinden muss, wenn es darauf ankommt, ein neues Verständnis meiner Situation und meiner selbst zu entwickeln, zeigt sich, ob ich die Heilung wirklich will oder ob ich sie mir nur wünsche.
Wir stoßen also im Prozess der psychischen Genesung unwiderruflich auf Widerstände, welche überwunden werden müssen. Die eigene Haltung diesen Widerständen zu begegnen, bezeichne ich im folgenden Hemmung. Niemand konfrontiert sich ja gerne mit unangenehmen Gefühlen oder Erinnerungen. Unangenehmes hemmt unseren Willen und unsere Kraft sich damit auseinander zu setzen. Dies ist nur allzu verständlich. Es hilft aber nichts. Damit der Heilungsprozess gelingen kann, muss ich die Hemmungen überwinden. Genau darin zeigt sich der Wille und die Entschlossenheit des psychisch Erkrankten: Ist er willens und in der Lage, die Hemmungen zu überwinden?
Klar ist, dass dies nicht leicht ist. Genau deshalb ist es auch so wichtig, sich für diesen Prozess in professionelle Hände zu begeben. Denn für diesen Prozess kann ich jede sinnvolle Unterstützung brauchen. Niemand kann aber den Prozess für mich durchlaufen. Ich selbst bin es, welcher diesen leisten muss. Alle anderen können ihn nur begleiten.
In der Hemmung bin ich nicht passiv, sondern aktiv.
Nun ist es wichtig zu verstehen, dass ich in der Hemmung nicht passiv, sondern aktiv bin. Dies mag verwundern. Denn wenn ich eine schlimme Erinnerung nicht zulassen oder ein bestimmtes Gedankenmuster nicht annehmen möchte, so scheint dies die natürliche Wirkung darauf zu sein. Ich erstarre gleichsam vor dem Unangenehmen und bin darin ganz passiv. Dies entspricht aber nicht der Wahrheit. Denn was hier tatsächlich geschieht ist, dass ich mich gegen das Unangenehme wehre. Ich leiste Widerstand. Ich will das nicht. Dies ist aber eine aktive Haltung. Ich setzte dem Negativen meine Kraft entgegen. Dies mag die Kraft der Verdrängung, der Verleugnung oder des Nicht-Wissen-Wollens sein. All dies sind aber aktive Tätigkeiten. Ob ich mir selbst in dieser Zeit dessen bewusst bin oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, dass ich eine Kraft aufwende, welche sich gegen etwas anderes wendet.
Die Hemmung bedeutet also, dass ich mich mit all meiner Kraft gegen etwas wehre, was ich nicht akzeptieren, erkennen und anerkennen möchte, weil es mir einfach zu unangenehm oder inakzeptabel erscheint. Auf der anderen Seite erfordert aber der Prozess der psychischen Heilung genau dies. Es scheint also eine Art von Dilemma vorhanden zu sein. Wie kann dieses aufgelöst werden? Woher soll ich noch die Kraft nehmen, mich meinen Themen zu stellen, wenn ich mich selbst schon kraftlos und vielleicht am Ende fühle?
Auf diese Fragen gibt es eine wunderbare Antwort. Denn auch wenn ich mich kraftlos fühle, so entwickle ich doch gerade in der Hemmung oder der Verweigerung eine immense Kraft! Und dies bedeutet, dass ich immer noch eine große Kraft in mir habe. Ich wende sie nur an der falsche Stelle an. Stellen Sie sich vor, Sie würden diese Kraft nicht auf die Hemmung verwenden, sondern auf die Lösung! Wie stark könnten Sie dann Ihren eigenen Heilungsprozess unterstützen! Sie nähmen dann Ihre vorhandene Kraft zusammen, nicht um sich zu wehren, sondern um sich selbst auf dem Weg zur Lösung zu helfen.
Die Kunst besteht dann darin, die vorhandene Kraft umzuwandeln und damit die Lösung herbeizuführen. Ein Beispiel dafür ist die Wut, welche ich entweder destruktiv gegen mich wenden kann, oder gegen die Personen, deren Verhalten ursächlich oder mitursächlich für meine psychische Erkrankung ist. Ein und dieselbe Kraft kann also meine Genesung verhindern oder befördern. Es ist also sehr wichtig zu lernen, meine Ressourcen zielführend für meine Heilung einzusetzen.
Welche Hemmungen spielen beim Versuch der Versöhnung mit der Vergangenheit eine entscheidende Rolle?
Die Versöhnung mit der Vergangenheit beinhaltet ja immer einen Schmerz, welcher in der Vergangenheit verursacht worden und welcher noch immer nicht bewältigt ist. In den folgenden Beiträgen zur Philosophie der psychischen Gesundheit wollen wir uns die grundlegendsten Formen der Hemmung ansehen. Denn genau diese Hemmungen müssen überwunden werden, damit die Versöhnung gelingen kann. An genau diesen zeigt sich unser Wille zur Lösung! Gleichzeitig sind diese Hemmungen der wesentliche Inhalt, mit welchem wir uns auseinandersetzen müssen.
Beginnen wir mit der grundsätzlichen Hemmung: Der Schmerz als die wesentlichste Form der Hemmung
Die grundsätzliche Form der Hemmung besteht darin, sich mit dem Quell der Verletzung überhaupt nicht mehr konfrontieren zu wollen. Denn wenn Versöhnung nötig ist, muss ja immer ein schmerzvolles Ereignis in der Vergangenheit liegen, welches unbewältigt ist. Etwas Schreckliches ist geschehen, was mein Leben tief irritiert hat und heute noch irritiert. Sich noch einmal damit zu konfrontieren bedeutet immer auch, sich noch einmal mit dem erlebten Schmerz zu konfrontieren und diesen noch einmal zu durchleben. Dies erfordert Mut, Zuversicht und Willen. Es erfordert auch eine professionelle psychiatrische oder psychotherapeutische Begleitung. Denn die Hilflosigkeit, welche mich bei der Konfrontation mit dem früher erlebten Schmerz ereilt, muss professionell abgefangen werden.
Sollten diese Elemente fehlen, ist die Versöhnung nicht möglich. Die Versöhnung muss aktiv gewollt und durch mein Handeln herbeigeführt werden. Dazu muss ich noch einmal an die Quelle des Schmerzes gehen. Dies bedeutet aber, dass ich in gewisser Weise den Schmerz noch einmal durchleben muss. Denn wenn ich mich mit einem vergangenen, verdrängten oder vergessenen Gefühl konfrontiere, so ist dies kein intellektueller Prozess, sondern ein emotionaler. Der intellektuelle Prozess analysiert, bewertet und interpretiert ein Ereignis. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen mir mit meinen Gefühlen und dem Ereignis, auch dann, wenn ich es selbst erlebt oder erlitten habe.
Der Grund dafür ist der, dass das Denken grundsätzlich in Begriffen denkt. Alle Begriffe aber sind allgemein. Der Schmerz – das ist ein allgemeiner Begriff. Etwas ganz anderes aber ist mein Schmerz, so wie ich ihn erlebe, wie weh er mir tut, was er mit mir macht, wie ich ihm ausgeliefert bin.
Für die Versöhnung ist deshalb nicht die Konfrontation mit dem Schmerz im Allgemeinen, sondern mit meinem ganz eigenen Schmerz gefordert. Dies kann deshalb nicht auf einer intellektuellen Ebene geschehen, sondern nur auf der emotionalen Ebene. Nur wenn ich den Schmerz, meinen Schmerz fühle, bin ich bei dem Schmerz, den es zu heilen gilt. Die Versöhnung bezieht sich auf den von mir gefühlten Schmerz, meinen Schmerz. Und es tut weh, den eigenen vergangenen Schmerz noch einmal zu fühlen. Von daher ist es verständlich, wenn man versucht, dies zu vermeiden. Schließlich hat man den Schmerz in all seiner Schrecklichkeit ja erleiden müssen und dann alles getan, damit genau dies nicht wieder passiert.
Aber auch wenn diese Haltung einer inneren Logik nicht entbehrt, verhindert sie doch die Versöhnung und damit die Heilung. Im Gegensatz zur Intention führt sogar gerade die Vermeidung und die Hemmung zur Wiederholung der Erfahrung des Schmerzes, wie hinreichend erforscht worden ist. Instinktiv suche ich später wieder ähnliche Situationen wie die, in welcher der Schmerz entstanden ist – dieses mal aber in dem Glauben, es besser machen zu können, als Erwachsener handlungsfähiger zu sein. Aber dies ist ein Irrtum. Ich gerate wieder in dieselbe Hilflosigkeit wie damals. Ebenso, wie ich mich verändert habe und jetzt erwachsen bin, hat sich die Form der Situation verändert.
Die Hilflosigkeit aber ist geblieben. Ich erlebe sie erneut, nur, dass ich jetzt z.B. nicht mehr dem gewalttätigen Vater gegenüberstehe und seine Gewaltausbrüche zu erleiden habe, sondern dem schlagenden Partner oder Ehemann. Was mich aber so hilflos macht, ist vor allem, dass ich diesem Menschen in Liebe verbunden bin. Der Vater ist der geliebte Vater und mein Mann ist mein geliebter Ehemann. Ich kann einfach nicht glauben, dass er es ist, der mich misshandelt und dass es mir nicht gelingt, ihn durch meine Liebe davon abzuhalten. Deshalb sucht man sich instinktiv einen Mann, der so ist wie der Vater, um nun zu demonstrieren, dass es auch anders geht, dass in dieser Konstellation Erfüllung möglich ist, dass ich nur stark genug lieben muss, um das Muster zu durchbrechen. Aber genau dies kann nicht gelingen.
Wenn ich mich von diesem Muster befreien will, gibt es nur einen Weg: die Wunde aus der Vergangenheit zu heilen und sich mit ihr zu versöhnen. Es gibt keine Pflicht, dies zu tun. Möglicherweise ist die Vermeidung auch leichter. Sich im selben Muster abzuarbeiten oder Beziehungen weitestgehend zu vermeiden, mag leichter sein. Erfüllt leben kann man auf diese Art und Weise allerdings nicht.
In dieser Richtung gibt es eine Notwendigkeit. Man muss dies nicht wollen, aber wenn man es will, ist die Versöhnung mit der Vergangenheit eine notwendige Bedingung. Die Hemmung in dieser Richtung muss dann überwunden werden. Sich der Vergangenheit als Vergangenheit bewusst zu werden, befreit uns zu einem Leben in der Gegenwart. Was uns dabei entscheidend hilft, ist die Erkenntnis, dass es sich bei der Konfrontation mit dem Schmerz aus der Vergangenheit nur um eine Erinnerung handelt. Ich fühle mich jetzt zwar wieder so wie damals, als ich die Verletzung erfahren habe, aber der Peiniger von damals ist jetzt nicht hier und ich erfahre die Verletzung jetzt nicht erneut. Es ist nur eine Erinnerung. Es geschieht jetzt nicht, sondern es fühlt sich nur so an wie damals. Wenn ich erkenne, dass dies nur eine Erinnerung ist, kann zum ersten Mal eine Distanz zu dem erlebten Gefühl entstehen.
Damals wurde ich misshandelt und es war schrecklich. Jetzt aber fühlt es sich nur so an. Ich werde jetzt nicht misshandelt. Diese Einsicht, die hier vielleicht sehr schlicht und selbstverständlich erscheinen mag, macht tatsächlich für die betroffene Person einen riesigen Unterschied aus.
Jetzt erst ist es möglich, das Gefühl des Schmerzes zu spüren, ohne wie sonst in die damals ausgebildeten Verhaltensmuster zu fallen. Wenn ich erkennen kann, dass es sich nur um eine Erinnerung handelt, werde ich mir des Unterschieds zwischen meinem damaligen Status und meinem heutigen bewusst. Ich beginne zu erkennen, dass es damals so war und es war schlimm. Aber heute ist es anders und ich bin ein anderer.
Sich der Vergangenheit als Vergangenheit bewusst werden
Auf diese Weise werde ich mir der Vergangenheit als Vergangenheit bewusst und kann die Gegenwart neu und frei gestalten. Aus dieser Differenz heraus kann ich mich meinem vergangenen Selbst, dem inneren Kind, wie es auch genannt wird, tröstend und mitfühlend hinwenden. Dies erlaubt auch die Entwicklung einer anderen Strategie im Umgang mit den Misshandlungen und mit denen, die misshandeln. Ich werde mir bewusst, dass ich das Muster durchbrechen kann. Ich muss jetzt nicht mehr dasselbe versuchen, was vollkommen aussichtslos ist, nämlich mir jemanden zu suchen, der mich wieder misshandelt in der Hoffnung, es möge dieses mal anders sein oder ich kann anders damit umgehen. Ich beginne zu verstehen, dass die Lösung in etwas anderem liegt, nämlich darin, darauf zu achten, die Menschen zu meiden, die mich verletzen und mich denen zuzuwenden, die dies nicht tun, sondern die mich und meine Gefühle wertschätzen und achtungsvoll behandeln. Ich selbst schütze mich und mein inneres Kind, indem ich zu den Wehetätern den richtigen Abstand einnehme. Dieser besteht in dem größtmöglichen Abstand, idealiter darin, mit ihnen überhaupt nichts mehr zu tun zu haben.
Diese Form des Selbstschutzes erlaubt es übrigens auch, die krankhafte, verzweifelte Form des Selbstschutzes zu vermeiden, welche leider weit verbreitet ist. Diese besteht nämlich darin, mein Herz zu verhärten und tiefe Gefühle nach Möglichkeit zu vermeiden. Wenn ich mein Innerstes einmauere und mit einem Schutzwall umgebe, kann ich tatsächlich nicht mehr verletzt werden. Insofern kann man sagen, dass die Strategie funktioniert.
Aber ich kann dann auch nicht mehr erfüllt leben. Erfülltes Leben bedeutet wesentlich im innersten Kern erfüllt zu sein. Dies aber ist der Kern der Liebe. Wenn ich nicht mehr geliebt werden kann, weil ich mein Herz eingemauert habe, bleibt das Innerste und Wertvollste leer. Schlimmer aber, als nicht mehr geliebt werden zu können ist es, selbst nicht mehr lieben zu können.
Denn ebenso wie durch die Schutzmauer nichts mehr nach innen dringen kann, kann auch nichts mehr nach außen treten. Echte, tiefe Gefühle, Liebe in ihrer Reinheit sind dann nicht mehr möglich. Die Liebe kann nur noch in einer ganz depotenzierten Form gelebt werden: manipulativ, berechnend, ausnützend, selbstsüchtig, narzisstisch. Diesen Zustand und das Wissen darum, dass man einmal in der Lage war zu lieben, bezeichnet Dostojewski als die Hölle. In Die Brüder Karamasoff schreibt er:
„Väter und Lehrer, ich frage mich: Was ist die Hölle? Und ich denke so für mich. Hölle ist die Reuequal, dass man nicht mehr lieben kann.“
Das sind starke Worte von Dostojewski! Aber ich bin der Überzeugung, dass er vollkommen Recht hat. Nicht mehr lieben zu können, das ist keine Bagatelle und nicht der Verlust einer Fähigkeit neben anderen Fähigkeiten. Nicht mehr lieben zu können bedeutet den Verlust des eigenen Menscheins.
Ein Aspekt ist noch äußerst wichtig, weil es zu vielen Missverständnissen führt.
Die Vergangenheit kann nicht mehr geändert werden. Das ist manchmal nicht leicht zu ertragen. Einige resignieren deswegen, denn was sollte ich tun, wenn ich nichts mehr ändern kann? Eine Veränderung der Vergangenheit ist zwar nicht möglich, aber die Versöhnung mit ihr ist möglich. Die Vergangenheit muss dafür nicht geändert werden. Nicht die Vergangenheit ändert sich, aber meine Weise sie zu verstehen, zu interpretieren und mit mir meinen Frieden zu finden kann sich ändern. Um dies zu ermöglichen, muss ich meinen Mut zusammennehmen und mich dem Schmerz noch einmal stellen. Angst wird man dabei wohl haben, aber Angst darf man hier auch zurecht haben. Der Mutige ist ja nicht der, welcher keine Angst hat, sondern der, welcher trotz Angst das Richtige tut. Das Richtige in Bezug auf ein erfülltes Leben heißt hier nichts anderes als seinen Mut zusammenzunehmen und sich dem Schmerz der Vergangenheit zu stellen, um ihn überwinden zu können. Der Mut ist ein starker Verbündeter, um die grundsätzliche Hemmung zu überwinden, sich mit der Vergangenheit versöhnen zu können.
Kategorien: Philosophie der psychischen Gesundheit