Beiträge zur Philosophie der psychischen Gesundheit 4/10

Die Bedeutung unserer Gefühle für ein erfülltes Leben

von Dr. Gerhard Hofweber

Die Beiträge zur Philosophie der psychischen Gesundheit reflektieren unser Gefühlsleben, seine Störungen und seine Ordnung aus einer philosophischen Perspektive heraus. Die philosophische Betrachtung eröffnet neue Blickwinkel, lädt uns ein, bekannte Dinge neu zu betrachten und somit uns und die Welt neu kennen zu lernen.
Sie kann einen therapeutischen Prozess nicht ersetzen, aber sehr wohl unterstützen und damit sehr hilfreich für Ihren individuellen Erkenntnis- und Genesungsprozess sein.

Die Versöhnung mit der Vergangenheit (Teil 2)

Wahrheit? Was soll das sein?

Im letzten Beitrag haben wir die Wichtigkeit der Versöhnung mit der Vergangenheit für die psychische Gesundheit und für ein erfülltes Leben besprochen. ‚Versöhnung‘ wurde dabei wie folgt definiert: Versöhnung ist das erkennende Sich-Hingeben an die Wahrheit.

Nach dieser Definition ist es für die Versöhnung entscheidend, zu erkennen, worin die Wahrheit in meiner Geschichte, in meiner Vergangenheit, meinem Leben und meiner Reflexion auf mein Leben besteht. Genau dafür müssen wir aber darüber nachdenken, was Wahrheit überhaupt ist. Dies ist alles andere als einfach.

Kann es objektive Wahrheit überhaupt geben?
Falls ja, worin besteht sie?

Gibt es objektive Wahrheit überhaupt? Können wir sie erkennen? Können wir uns an ihr orientieren? Oder muss all unser Denken und Wissen letztlich subjektiv bleiben, so dass jeder seine Wahrheit hat. Dann hätte jeder an seiner Wahrheit seine Orientierung. So scheint es heute zu sein. Wenn dem aber so wäre, würde es gar keinen Sinn machen, von psychischer Krankheit und psychischer Gesundheit zu sprechen. Denn es wäre dann jedem selbst überlassen, was er als Gesundheit und was als Krankheit ansieht. Wozu gäbe es dann aber psychosomatische Kliniken, Psychiater und Psychotherapeuten, deren Kompetenz genau darin besteht, psychische Erkrankungen zu diagnostizieren und zu behandeln?

Es ist nicht einfach, hier klar zu sehen. Aber gerade hier hilft die philosophische Perspektive. Denn diese bezieht sich primär auf die Grundfragen, von denen letztlich alles abhängt. Betrachten wir also im philosophischen Sinn die Frage, was Wahrheit ist und schauen wir dann, was sich für Konsequenzen für die Betrachtung der psychischen Gesundheit ergeben.

Die philosophische Frage nach der Wahrheit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die psychische Gesundheit

Zunächst ist festzuhalten, dass wir in Zeiten des Relativismus leben und das heißt, dass wir den Bezug zur Wahrheit verloren haben. Wahrheit und alle Erkenntnis scheint uns heute relativ zu sein. Relativ bedeutet, dass sie immer in Beziehung zum erkennenden Subjekt und deshalb subjektiv sei. Die Wahrheit, so meint man, könne es nicht geben. Außerdem ist ja die Erkenntnis eines Subjekts eine menschliche Erkenntnis und diese wäre per se nicht in der Lage, die Wahrheit zu erkennen. Und selbst wenn der Mensch sie erkennen könnte, so müsste sie doch in Begriffen ausgedrückt werden.

Begriffe aber sind allgemein und wären demnach nicht geeignet, das Konkrete in all seiner Differenzierung zu fassen. Also, so schließt man, ist Wahrheit subjektiv und nicht allgemein bestimmbar. Diese Überzeugung drückt sich dann zum einen in Formulierungen aus wie: ‚Das ist ja nur meine Meinung.‘‚ ‚Ich sehe das halt so, aber ich möchte nicht behaupten, dass dies wahr ist.‘ Zugleich möchte man jede Form von allgemeinen Aussagen vermeiden. ‚Das kann man allgemein so nicht sagen.‘ ‚Da muss man differenzieren.‘ ‚Ich wäre vorsichtig mit allgemeinen Aussagen.‘

In einem philosophischen Sinne kann
die Überzeugung der Subjektivität der Wahrheit
selbst als ein Ausdruck psychischer Krankheit aufgefasst werden.

Neben dieser vermeintlichen Begründung der Subjektivität der Wahrheit gibt es noch eine ganze Reihe anderer, welche sehr verbreitet sind und welche Sie, während Sie dies lesen, aller Wahrscheinlichkeit nach teilen: Es ist anmaßend zu behaupten, die Wahrheit zu haben. Falls jemand im Besitz der Wahrheit wäre, wäre dies sehr gefährlich, weil die anderen sie dann nicht hätten. Und überhaupt: Wie sollten wir entscheiden können, was wahr ist? Haben sich nicht viele vermeintliche „Wahrheiten“ im Laufe der Geschichte geändert? Schließlich: Gibt es nicht eine ganze Reihe von Theorien, von welchen jede behauptet, die wahre zu sein, obwohl sie sich widersprächen? All diese Gedanken bekräftigen die Überzeugung: Wahrheit ist subjektiv.

So verbreitet die Auffassung, dass Wahrheit
subjektiv sei, sein mag: Sie ist falsch!

Denn all diese Aussagen sind voller Widersprüche. Wer sagt, dass die Wahrheit nur subjektiv sei, behauptet dies objektiv. Er sagt ja: Dies gilt objektiv: Wahrheit ist subjektiv. Ebenso ist die Aussage, dass man keine allgemeinen Aussagen treffen könne, selbst eine allgemeine Aussage. Wer behauptet, niemand könne im Besitz der Wahrheit sein, glaubt implizit selbst, im Besitz der Wahrheit zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass wir alle ungeachtet des herrschenden Relativismus in der Praxis wahrheitsgläubige Menschen sind. Wenn mir jemand mein Auto stiehlt und danach behauptet, dies sei ja nur meine Meinung, seine sei anders, würden wir wohl kaum sagen: ‚Stimmt. Schließlich ist alles subjektiv.’ Und schließlich noch zwei rein historische Argumente. Keiner der großen Philosophen hat je eine solche Auffassung vertreten!

Sämtliche großen Philosophen haben
die Idee der objektiven Wahrheit
vertreten und versucht, diese darzustellen.

In der Antike war dies die Auffassung der Sophisten und Rhetoren, gegen welche sich die Philosophie gestellt hat. Die prominentesten Beispiele dafür sind Sokrates, Platon und Aristoteles. Erst als Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Philosophie in die Krise geraten ist, wurde die Haltung des zersetzenden Relativismus salonfähig.

Auch in der Bibel spielt die Diskussion um die Wahrheit eine entscheidende Rolle. So entspinnt sich folgender Dialog, als Jesus vor Pontius Pilatus geführt wurde: „So fragte denn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18, 37f)

Was Pilatus damit meint, ist vermutlich, dass Wahrheit ein abgedroschener Begriff sei, welcher nicht bestimmbar ist. Was soll Wahrheit schon sein? Es scheint doch klar, dass diese Frage nicht zu beantworten ist. Was soll das also werden mit der Wahrheit?

Wie wir wieder einen Zugang zur Dimension der Wahrheit finden

Wir können wieder einen Zugang zur Wahrheit finden, indem wir nicht fragen wie sie ist, sondern was sie ist. Was verstehen wir eigentlich unter Wahrheit? Was meint man denn eigentlich mit ‚Wahrheit‘, von der man behauptet, dass es sie nicht gäbe? Ist das ein Gegenstand? Kann man sie sehen? Drückt sie sich in einem bestimmten Satz aus? Ist sie eine Eigenschaft? Das ist nicht leicht zu sagen.

Wahrheit ist die kosmische Ordnung.

Das ist die philosophische Definition der Wahrheit.

 Dies bedeutet, dass der gesamte Kosmos geordnet ist und eine objektive Struktur hat. Egal, ob wir an das Ökosystem, unser Verdauungssystem oder unsere Gefühle denken: alles unterliegt einer Ordnung. Ist diese Ordnung gestört, so kommt es zu Problemen, Krisen, Krankheiten und Unglück. Die Wahrheit als kosmische Ordnung ist kein Gegenstand, den man besitzen kann. Sie ist für uns nur subjektiv zugänglich, aber sie wird dadurch nicht an sich subjektiv. Sie zu erkennen ist schwer, aber es gilt dies, was Aristoteles sagt: „Niemand hat die Wahrheit ganz und niemand verfehlt sie ganz“. Zu entscheiden, welche Theorie wahr ist, ist schwierig. Aber genau dies macht den Fortschritt in der Erkenntnis und in der Wissenschaft aus. Die Wahrheit ist also nicht ein singulärer Satz oder Gegenstand, sondern gerade das große Ganze.

Jede psychische Erkrankung ist
eine Störung der Ordnung unseres
Seelenlebens und unserer Hirnfunktionen.

Aber auch, wenn man sich all dem verschließen möchte und trotzdem bei der Auffassung der subjektiven Wahrheit bleiben möchte, so zeigt uns gerade die Versöhnung einen deutlichen Weg zur Wahrheit. Denn woran wollen wir uns orientieren, wenn wir die Versöhnung betrachten? An dem subjektiven Eindruck der Person oder an dem, was tatsächlich geschehen ist? Es ist ja gerade das Dilemma bei den tief verletzten Personen, dass sie immer noch versuchen, die Verletzung zu verdrängen und zu bagatellisieren.

In solchen Fällen ist es die Aufgabe des Therapeuten, die Klienten dabei zu unterstützen, sich erinnern und von dort aus den Schmerz bewältigen zu können. Was dann entsteht ist der Kampf zwischen dem Konstrukt, welches sich der Klient aufgebaut hat und der Wahrheit, die sich tatsächlich ereignet hat. Das ist ein zähes Ringen. Denn in dem Konstrukt hat sich der Klient eingerichtet. Er ist stolz darauf, was er sich erschaffen hat und wie er das Leben bewältigt. Würde er einsehen müssen, dass es sich dabei nur um ein Kartenhaus handelt, das auf sandigem Grund und ohne Fundament errichtet worden ist, wäre das für ihn eine tiefe Kränkung. Genau das würde ja bestätigen, wogegen er sein ganzes Leben anlebt, nämlich das Gefühl, falsch und wertlos zu sein. Dabei glaubt er es ja im Grunde selbst und deshalb bestätigt sich für ihn das Gefühl im Laufe seines Lebens immer wieder. Die Lösung liegt aber ganz woanders, nämlich in der Versöhnung mit der Vergangenheit und der Erkenntnis des wahren Menschseins. Genau dafür muss aber das Konstrukt aufgegeben werden. Das ist der Zirkel, der nicht nur der Versöhnung, sondern auch jeder Persönlichkeitsentwicklung zugrunde liegt:

Erst wenn ich das aufgebe, was mein vermeintlicher Halt ist, kann ich das erreichen, was mir wahrhaft Halt gibt.

 Erst wenn ich die konstruierte Deutungshoheit aufgebe und mich von der Wahrheit leiten lasse, kann ich die Versöhnung finden, oder besser: kann mich die Versöhnung finden. Vielleicht lässt sich aber auch der ganze Kampf um die Deutungshoheit als ein pathologisches Phänomen verstehen.

Denn wozu muss ich denn auf meiner subjektiven Deutungshoheit bestehen, wenn ich nicht ahne, dass dies nicht der Wahrheit entspricht? Vielleicht kann die ganze Diskussion über die Subjektivität der Wahrheit als eine Legitimation des Pathologischen verstanden werden, als ein Kampf zwischen dem konstruierten Ego mit all seinen Leistungen und dem wahren Selbst, das einfach nur ist.

Wie müsste dann aber die seelische Gesundheit von der seelischen Krankheit unterschieden werden? Gibt es hier überhaupt ein klares Kriterium oder ist der Übergang fließend? Wenn wir die Frage so stellen, sind wir schon selbst in den Sog der Unerkennbarkeit und der Subjektivität als Maßstab geraten. Es gibt viele Möglichkeiten, beides klar zu unterscheiden.

Psychische Gesundheit lässt sich als ein Leben gemäß der Ordnung der Gefühle oder als ein Leben in Übereinstimmung mit der Wahrheit definieren.

 Ich möchte es aber hier auf eine andere Weise versuchen. Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass es keine kontinuierliche Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit gibt. Auch der Übergang zwischen beiden Kategorien ist absolut. Wenn ich die zur psychischen Krankheit überschreite, dann überschreite ich den Rubikon und dann sind die Würfel in der Tat gefallen. Dann gibt es kein Zurück mehr in dem Sinne, dass ich alleine den Weg wieder zurück finde. Ich bin dann auf Hilfe angewiesen.

Der psychisch gesunde Mensch hat Höhen und Tiefen, Probleme, Schwankungen und dergleichen, aber er findet mit Hilfe seines sozialen Umfelds alleine den Weg heraus. Der psychisch Kranke findet diesen Weg alleine nicht mehr. Er braucht professionelle Hilfe. Wenn wir die Auslastung der Psychotherapeuten heute als Maßstab nehmen, ahnen wir, wie viele Menschen inzwischen den Rubikon überschritten haben. Das Bild des Flusses passt hier sehr gut. Denn es besteht eine Kluft zwischen der psychischen Krankheit und der psychischen Gesundheit. Wem es möglich ist, bleibt auf der Seite der Gesundheit. Wem es nicht möglich ist, der braucht professionelle Hilfe. Dabei gibt es auf beiden Seiten noch eine wichtige Unterscheidung. Auf der pathologischen Seite gibt es eine Reihe von Menschen, die noch in der Lage sind, im normalen Leben zu funktionieren und den Anforderungen irgendwie zu entsprechen. Dies ist die weitaus größere Gruppe. Die andere Gruppe ist dazu nicht mehr in der Lage und fällt aus dem Raster der Gesellschaft. Für diese Menschen ist ein normales Leben nicht mehr möglich. Das heißt natürlich nicht, dass jeder, der aus dem Raster fällt, psychisch krank ist. Beim psychisch Gesunden gibt es eine analoge Unterscheidung. Die weitaus größere Gruppe ist zwar gesund, lebt aber unerfüllt. Die deutlich kleiner Gruppe, vielleicht sind es auch nur ein paar, ist nicht nur gesund, sondern lebt auch erfüllt. Das sind die besonderen, die glücklichen Menschen.

Wie lässt sich nun psychische Gesundheit und Krankheit vor diesem Hintergrund definieren?

Psychische Gesundheit bedeutet, prinzipiell auf ein ‚Ja‘ ausgerichtet zu sein. Psychische Krankheit bedeutet, prinzipiell auf ein ‚Nein‘ ausgerichtet zu sein. Analog zu der obigen Einteilung innerhalb der beiden Seiten lässt sich dies wie folgt differenzieren: Die große Gruppe innerhalb der Gesunden ist auf ein ‚Ja, aber‘ ausgerichtet, die kleine Gruppe der Glücklichen auf ein reines ‚Ja‘. Umgekehrt ist die größere Gruppe der Kranken auf ein ‚Nein, aber‘, die kleinere auf ein reines ‚Nein‘ ausgerichtet. Die Depression kann man von ihrem Grundsatz als ein ‚Nein, aber’ begreifen. Es versteht sich von selbst, dass zwischen den beiden großen Gruppen endlose Diskussionen über die Wahrheit möglich sind, wohingegen die beiden extremen Gruppen kaum zu vermitteln sind. Dort ist der Kampf um die Wahrheit am stärksten, weil beide Positionen am weitesten auseinander liegen. Dabei gibt es aber folgenden Unterschied: Je stärker die Krankheit ausgeprägt ist, umso stärker ist auch der Anspruch auf Deutungshoheit.

Der extreme Anspruch auf
die Deutungshoheit ist selbst
ein pathologisches Phänomen.

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Dies lässt sich bei den Menschen mit Persönlichkeitsstörungen besonders deutlich beobachten. Es betrifft aber auch die still Leidenden, die sich als handlungsunfähig und rein reaktiv empfinden. Bei ihnen fällt es nur nicht so auf. Je weiter ich aus der Gesellschaft gefallen bin und je weniger ich mit meinem eigenen Leben zurande komme, umso stärker ist die Tendenz, umgekehrt die Gesellschaft und die Gesunden für krank zu erklären und meine eigene Krankheit als die eigentliche Gesundheit zu verklären.

Das Umgekehrte ist allerdings nicht der Fall. Dies ist eine wichtige Facette, die oft nicht verstanden wird. Wer sich an der Wahrheit orientiert, unterwirft sich der Wahrheit. Damit ist nicht eine devote Servilität gemeint, sondern schlicht und ergreifend die Erkenntnis, dass die Wahrheit größer ist als wir selbst. Was die Wahrheit ist, entscheidet ja auch nicht dieser oder jener, sondern die Vernunft entscheidet, was die Wahrheit ist. Insofern ist jeder Mensch dazu im Stande, insofern er seine Vernunft gebraucht. Wahrheit kann auch nicht verordnet oder doktriniert werden, sondern sie muss erkannt und eingesehen werden. Das aber ist nicht leicht.

Der Kampf zwischen dem Konstrukt und der Wahrheit ist ein entscheidender Parameter für die Versöhnung mit der Vergangenheit. Wenn sich der psychisch Erkrankte nämlich an seiner subjektiven Wahrnehmung orientiert, kommt er keinen Schritt weiter. Gerade die Menschen, die am tiefsten verletzt sind und diese Verletzung verleugnen und sich hinter ihrem selbstgeschaffenen grandiosen Selbst verstecken, bräuchten die Versöhnung am dringendsten. Aber genau dies erkennen sie nicht an. Das bedeutet aber nichts anders, als die Versöhnung nicht zu wollen. Jeder Mensch hat ein Recht dazu und an Recht auf sein eigenes Unglück. Dies aber hat zum Resultat, dass gerade die Menschen die Versöhnung nicht suchen, welche sie von außen betrachtet gerade am meisten bräuchten.

Wenn wir uns aber an der Wahrheit orientieren,
ist die Versöhnung grundsätzlich möglich.

Mehr als das. Wenn wir die Versöhnung suchen, uns dabei an der Wahrheit orientieren und die entsprechenden Formen der Versöhnung beachten, ist sie nicht mehr aufzuhalten.

Die Lösung ist größer als das Problem!

Die Orientierung an der Wahrheit erlaubt es uns zu sehen, was tatsächlich passiert ist. Wir begreifen dann, dass der Schmerz nicht nur real ist, sondern auch, dass er eine reale Ursache hat. Niemand verschließt sein Herz ohne Grund. Die Ursache ist real. Das schreckliche Ereignis, die schrecklichen Ereignisse, haben tatsächlich stattgefunden. Wenn ich dies erkenne und anerkenne kann die Versöhnung beginnen. Maßgebend ist wegen der Zirkularität der Selbstwahrnehmung nicht das subjektive Empfinden, sondern einzig und allein die Wahrheit und das, was sich tatsächlich ereignet hat. Maßgebend ist nicht, was mir fälschlicherweise als „Wahrheit“ eingebleut worden ist, sondern die Wahrheit im Sinne der kosmischen Ordnung.

Die Übereinstimmung mit der Wahrheit ist es also, was die Versöhnung möglich macht. Umgekehrt kann ich nicht versöhnt sein, wenn ich nicht in Übereinstimmung mit der Wahrheit lebe. Der Bezug zur Wahrheit ist gestört, wenn ich nicht mit meiner Vergangenheit versöhnt bin. Genau in dieser Beziehung zur Wahrheit liegt aber das erfüllte Leben. Ohne die Versöhnung mit der Vergangenheit ist deshalb das erfüllte Leben auch nicht möglich. Dieser Gedanke ist auch mit Ängsten verbunden. Was ist, so kann man meinen, wenn die anderen erkennen, wie schlecht ich in Wahrheit bin? Wieder andere mögen denken, dass sie lieber nicht zu tief in sich graben möchten, um nicht die tief schlummernden Dämonen in sich zu wecken oder selbst zu entdecken, welche dunklen Geheimnisse sich in ihnen verbergen.

Aber das ist eben eine ganz falsche Vorstellung der Wahrheit und ein Verkennen ihrer tiefen versöhnenden Dimension. Diese Vorstellung kann man unter der Idee ‚Wahrheit tut weh‘ subsumieren. Damit ist dann beispielsweise gemeint, dass die Stunde der Wahrheit gekommen ist, wenn man sich seit längerem wieder auf die Waage begibt und feststellt, dass man nicht drei Kilo abgenommen hat, wie gehofft, sondern vier Kilo dazu gepackt hat. Dann ist man vielleicht wütend auf sich, schimpft auf seinen Körper und versucht den sogenannten inneren Schweinehund niederzukämpfen. Aber eben dies entspricht nicht der Wahrheit. Freilich ist es richtig, dass man zugenommen hat. Aber was ist mit dem seelischen Leben und Erleben dahinter? Welche Schmerzen versuche ich körperlich zu kompensieren?

Was trägt und erträgt mein Leib für mich, weil ich selbst nicht im Stande bin, es für mich anders zu lösen?

Wenn ich die tiefere Dimension
der Wahrheit verstehe, höre ich auf,
gegen mich selbst zu kämpfen und
umarme mich stattdessen in Freundschaft.

Die Versöhnung ist also eine notwendige Bedingung für ein erfülltes Leben. Aber sie ist nicht leicht. Denn es gibt eine Reihe von Hemmungen, welche dieser im Wege stehen. So verständlich der Grund für die Hemmung auch sein mag, für die Versöhnung müssen sie überwunden werden. Dabei ist wichtig, die grundsätzliche Hemmung und die speziellen Hemmungen zu unterscheiden. Mal scheitert die Versöhnung an der einen, mal an der anderen Form der Hemmung. Besonders oft scheitert sie aber daran, dass die verschiedenen Formen der Hemmung nicht unterschieden werden, weil uns nicht bewusst ist, dass es verschiedene Formen der Versöhnung mit der Vergangenheit gibt.

Der Versöhnung mit der Vergangenheit
stehen Hemmungen entgegen,
welche überwunden werden müssen,
um psychisch gesund leben zu können.

Bevor wir diese Formen der Versöhnung und damit der jeweiligen Hemmung betrachten wollen, müssen wir erst ein mal begreifen, welche allgemeinen Formen der Hemmung es gibt.

Was also steht uns im Wege, um uns mit der Vergangenheit versöhnen zu können? Dies wollen wir im nächsten Beitrag zur Philosophie der psychischen Gesundheit betrachten.

Quellenangaben
  • Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen, Stuttgart 1985
  • Aristoteles: Metaphysik, hrsg. v. B. König, Reinbeck bei Hamburg 2010
Dr. Gerhard Hofweber
Philosoph und Autor Dr. Gerhard Hofweber
Dr. Gerhard Hofweber ist Philosoph und Autor. Seine Schwerpunkte liegen auf den Themen Metaphysik, psychische Gesundheit und sinnerfülltem Leben. Seit über 25 Jahren begleitet Dr. Hofweber Menschen in essentiellen Lebenssituation und existenziellen Lebensfragen. Sein vielseitiges Schaffen bildet sich auch in seinen Büchern ab.