von Dr. Gerhard Hofweber
Die Beiträge zur Philosophie der psychischen Gesundheit reflektieren unser Gefühlsleben, seine Störungen und seine Ordnung aus einer philosophischen Perspektive heraus. Die philosophische Betrachtung eröffnet neue Blickwinkel, lädt uns ein, bekannte Dinge neu zu betrachten und somit uns und die Welt neu kennen zu lernen.
Sie kann einen therapeutischen Prozess nicht ersetzen, aber sehr wohl unterstützen und damit sehr hilfreich für Ihren individuellen Erkenntnis- und Genesungsprozess sein.
Im letzten Beitrag zur Philosophie der psychischen Gesundheit haben wir an Hand von zwei Beispielen gesehen, wie Krankheiten wie Depression oder Magersucht entstehen. Im Wesentlichen liegt die Ursache für diese Krankheiten in einer Störung des natürlichen hierarchischen Verhältnisses zwischen den Eltern und ihren Kindern. Da die Kinder, insbesondere die Allerkleinsten, bedingungslos auf die Liebe der Eltern und deren Fürsorge angewiesen sind, haben sie keine Möglichkeit den Mangel an derselben auszugleichen als durch die Abspaltung gewisser Seelenanteile, um so wenigstens das eigene Überleben zu sichern. Insofern ist die Abspaltung in der Kindheit als eine gesunde Reaktion auf eine unerträgliche Situation zu begreifen.
Dies bedeutet aber, dass die Kinder, falls es zu seelischen Schäden in der Kindheit kommen sollte, als Opfer anzusehen sind. Der Willen der Eltern steht absolut über dem Willen der Kinder und es ist den Kindern schlichtweg nicht möglich gegen diese Übermacht anzugehen. Dies bedeutet Opfersein: Ein anderer Willen setzt sich absolut gegen meinen eigenen Willen durch, ohne dass ich die geringste Möglichkeit habe, dies zu verhindern.
Die Erfahrung der Ohnmacht, der an mir verübten Ungerechtigkeit, die Erfahrung des Schrecklichen und des Bösen ist die Quelle vielschichtiger psychischer Erkrankungen. Gerade wenn die Eltern als die Täter fungieren, ist es besonders schlimm. Denn dann ist es nicht nur so, dass das Böse von Menschen kommt, welche genau dies auf gar keinen Fall, sondern das Gegenteil tun sollten, sondern es ist zudem so, dass die Kinder mit ihren Eltern trotzdem in Liebe verbunden sind. Wie schlimm muss es sein, die tiefsten Verletzung von denjenigen Personen zu erleiden, welche sie rückhaltlos lieben? Niemand erlebt einen solchen Schaden, ohne nicht im tiefsten Inneren verletzt zu sein. Genau diese Verletzung ist dann die Ursache dafür, dass vor allem im späteren Alter psychische Krankheiten entstehen.
Wenn hier gesagt wird, dass die Kinder gegenüber den Eltern bei schwerwiegenden Verletzungen als Opfer anzusehen sind, so bedeutet dies weder, dass dies im Erwachsenenalter so bleiben muss, noch, dass ich mich als Erwachsener selbst als Opfer verstehen muss und sollte.
Dies ist ein ganz wichtiger Punkt. Die meisten Therapien werden genau dort ansetzen. Denn wenn ich als Kind diese Ohnmacht berechtigterweise erlebt habe, setzt sich das Gefühl der Ohnmacht und des Verlustes der eigenen Selbstwirksamkeit bis ins Erwachsenenalter und bis zu dem heutigen Tag fort. Die Erkrankung der Depression ist genau ein Ausdruck davon. Denn der Mensch, welcher an Depression erkrankt ist, hat als Erwachsener genau dasselbe Gefühl, welches er wahrscheinlich als Kind hatte: Egal was ich tue, es macht eh keinen Unterschied. Also kann ich mein Handeln auch sein lassen.
Wir haben in den vorherigen Beiträgen zur Philosophie der psychischen Gesundheit angesichts von Friedrich Nietzsches Idee des Willens zur Macht gesehen, dass sich die vermeintliche Ohnmacht im Verhältnis der Ohnmacht des Kindes ganz anders darstellt. Denn im Erwachsenenalter und auch schon in der Jugend hat der Wille die Möglichkeit, sich gegen sich selbst zu wenden und auf diese Art seine Kraft zu entfalten.
Die subtile Form der Rache als ein Ausdruck des Willens zur Macht
Er kann dies beispielsweise so tun, dass die Person beschließt, sich selbst zu verletzten oder sich langsam zugrunde zu richten, ohne dass die Menschen, welcher dieser Person in Liebe verbunden sind, irgendetwas dagegen tun können. Dies ist ein Form der „subtilen Rache“, wie dies der magersüchtige Mann im Artikel „Ein Mann löst sich auf“ im Süddeutschen Magazin berichtet.
Diese Rache erstreckt sich aber nicht nur auf die eigenen Eltern, sondern eben auf alle Menschen, welchen die Person selbst in Liebe verbunden ist. Dies kann die eigene Ehefrau, der eigene Ehemann, die eigenen Kinder mit beinhalten. Dies zeigt eben das Tragische der psychischen Erkrankung: Die niemals erfahrene Liebe, Empathie und Feinfühligkeit führt nicht nur zu einer Härte gegen sich selbst, sondern auch gegen alle anderen, welche die Person lieben und innigst mit ihr verbunden sind oder sein möchten.
Dies ist auch der Grund, warum es sehr vielen psychisch erkrankten Menschen so schwer fällt, sich selbst zu öffnen und tiefe Gefühle zuzulassen. Denn wenn sie beispielsweise tiefe, aber wunderschöne Gefühle, wie die Liebe von einem Partner oder von den eigenen Kindern zulassen würden, wäre damit eine Tür geöffnet, durch welche alle tiefen Gefühle durchdringen würden. Die schlimmen und schlimmsten Erfahrungen aus der Kindheit, die tiefen und die tiefsten Verletzungen von damals wären schlagartig wieder präsent und es würde sich so anfühlen, ob sie nicht gestern gewesen seien, sondern so, als ob sie jetzt, jetzt in diesem Moment, wieder geschehen.
Aber genau dies ist der Punkt, an dem die Therapie und damit die Heilung und Aufarbeitung ansetzen kann. Denn auch wenn es sich für den Klienten genau so anfühlt, als würde er dasselbe Trauma, dieselbe Erniedrigung und damit den ganzen damit verbunden Schmerz jetzt wieder erleben, so ist es doch nur eine Erinnerung.
‚Nur‘ ist natürlich leicht gesagt, denn die Intensität des Schmerzes kann in der Erinnerung genau dieselbe sein, als zu der Zeit, als dieser verursacht worden ist. Tatsächlich ist diese Ursache jetzt aber nicht mehr da. Es fühlt sich nur so an. Dies bedeutet, dass es sich nur um eine Erinnerung handelt
Wenn es mir als Klient gelingt, dies zu begreifen, kann dies alles ändern. Wenn hier von ‚begreifen‘ die Rede ist, so ist dies sehr ernst zu nehmen.
‚Begreifen‘ bedeutet nämlich mehr als die bloße Information zu verstehen. Das Verstehen von Informationen ist für jeden möglich, ganz egal, ob er erkrankt ist oder nicht. Das Begreifen dagegen ist nicht so einfach möglich. Wenn zwischen der bloßen Informationsverarbeitung und dem Begreifen nicht unterschieden wird, ist die Heilung blockiert. Philosophisch betrachtet handelt es sich hier um den fundamentalen Unterschied zwischen Verstand und Vernunft.
Diese Unterscheidung ist heute so gut wie vergessen. Allein die Ähnlichkeit in der Phonetik der beiden Ausdrücke legt eine Gleichheit nahe. Aber dies ist nicht der Fall. Bereits die großen antiken Philosophen Platon und Aristoteles haben die beiden Vermögen des Denkens sehr klar und sehr detailliert unterschieden. Platon führt dies in seinem Werk Der Staat (Politeia) aus und Aristoteles greift den selben Gedanken in seiner Nikomachischen Ethik sehr detailliert auf, indem er ausführlich darlegt, welche Charakteristiken dem Verstand und der Vernunft, sowohl in ihrer praktischen als auch in ihrer theoretischen Ausprägung zukommen.
In der großen Ära der deutschen Philosophie (ca. 1770 – 1830), also über 2000 Jahre später, greift insbesondere Immanuel Kant diese Idee wieder auf und führt sie zu einer neuen Höhe der Erkenntnis. Dies ist auch der Grund, warum er seine beiden Hauptwerke einmal Kritik der reinen Vernunft und ein anderes mal Kritik der praktischen Vernunft nennt. Immanuel Kant findet also den Unterschied zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft so fundamental, dass er beiden jeweils ein eigenes Werk widmet. Und er hat Recht damit! Denn der Unterschied ist in der Tat fundamental.
Zugleich behandelt er in beiden Werken auch die Rolle des Verstandes, besonders aber des theoretischen Verstandes in der Kritik der reinen Vernunft. Auch wenn wir hier nicht im Detail auf diese Unterschiede eingehen können, so ist es doch wichtig zu wissen, dass die größten Denker sich damit beschäftigt haben und die Wichtigkeit dieses Themas für unser Leben erkannt haben.
Für unseren Fall können wir den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft so verstehen, dass der Verstand die Informationsverarbeitung ist, wohingegen wir unter der Vernunft das wirkliche Begreifen verstehen können. Jedem, der in der Kindheit Schlimmes erfahren hat, ist ja bewusst, dass er jetzt kein Kind mehr ist und er dieselben Erfahrungen jetzt nicht mehr macht. Aber dies ist eine bloße Kenntnis von Informationen. Aber diese dringt nicht vor in die Tiefe unseres Bewusstseins. Eine Kenntnis ist eben keine Erkenntnis.
Solange ich die Erkenntnis über meinen jetzigen Zustand und meiner jetzigen Situation nicht vollumfänglich habe, wird mein Denken, Handeln und Fühlen immer noch von dem Trauma bestimmt, welches ich in meiner Kindheit erfahren habe. Ich „weiß“ zwar, dass ich jetzt nicht mehr in derselben traumatischen und ausweglosen Situationen wie damals, als ich Kind war bin, „begriffen“ habe ich es aber nicht.
Die Parallele zwischen Philosophie und Psychologie
Hier gibt es eine interessante Parallele zwischen der Philosophie und der psychologischen Therapie: In der klassischen Philosophie wird der Weg zur Erkenntnis so begriffen, dass der Verstand zur Vernunft gebracht werden muss. Der Verstand betrachtet die Dinge gleichsam wie von außen, während die Vernunft in der Lage ist, die Dinge von innen zu durchdringen und so ihre wahre Wirklichkeit zu begreifen.
In der Therapie kommt es analog zum Weg der Weisheit in der Philosophie darauf an, die ‚Kenntnisse‘ über meinen Vergangenheit und deren Folgen für meine Gegenwart und Zukunft zu ‚Erkenntnissen‘ zu transformieren. Erst wenn dies gelungen ist, kann ich mich aus dem Würgegriff meines Traumas befreien. Zu Erkenntnissen werden die Kenntnisse aber erst dann, wenn sie nicht primär über ihren informativen Gehalt, sondern über die verdrängten Emotionen, die mit der damaligen Situation verbunden waren, begriffen werden.
Es gibt therapeutisch keinen Fortschritt, wenn der Klient zwar über die schrecklichen Dinge ‚weiß‘, die ihm möglicherweise als kleines Kind widerfahren sind, dabei aber nichts fühlt. Genau nämlich die Strategie des Nicht-Fühlen-Wollens war die Strategie, welche er als Kind wählen musste, um überleben zu können. In der therapeutischen Aufarbeitung kommt es aber genau darauf an die verdrängten Gefühle wieder erfahrbar zu machen und eine neue Strategie für den erwachsenen Menschen zu entwickeln, welche einen anderen Umgang mit negativen Gefühlen erlaubt, als den der Verdrängung. Denn damit ist auch immer ein Verschwinden eines Teils meiner Persönlichkeit beinhaltet.
Bestimmte Teile meiner Persönlichkeit verschwinden nämlich in der Verdrängung. Denn ich bin dann zwar für den Schmerz nicht mehr berührbar, weil meine Berührbarkeit, meine Verletzlichkeit, meine Empathie dann abgespalten sind. In der Abspaltung bin ich zwar viel weniger verletzbar, aber ich bin auch nicht mehr liebes- und empathiefähig. Denn um lieben zu können, müssen diese Areale in meinem Seelenleben aktiv und funktional sein.
Die Strategie der Abspaltung kann man sich wie das Anlegen einer schweren Rüstung vorstellen. Als Kind musste man sich freilich diese Rüstung anziehen, damit der Schmerz und die Verletzung nicht noch schlimmer werden und wenigstens das blanke Überleben gesichert werden konnte. Ich bin dann zwar relativ sicher in dieser Rüstung, aber sanfte, tiefgehende Berührungen sind dann nicht mehr möglich. Weder ist es möglich, dass mich jemand sanft und zärtlich berührt, noch bin ich selbst dazu in der Lage. Mit meinem gepanzerten Handschuh kann ich nur grobe Berührungen ausführen und es kommt ganz schnell dazu, dass ich andere in meiner Grobheit verletze..
In meinem Panzer bin ich zwar sicher, aber ich kann in meinem Panzer nicht liebesfähig sein. Ohne Liebesfähigkeit ist aber ein erfülltes Leben nicht möglich! Dies liegt an der Struktur unseres Gefühlslebens, welche geschichtet ist. Im Innersten liegen die tiefsten Gefühle und erfüllt leben ist nur für denjenigen möglich, welcher Zugang zu seinen innersten Gefühlsebenen hat. Genau deshalb ist die Versöhnung mit der Vergangenheit so wichtig. Durch diese werde ich nämlich dazu befähigt, die Rüstung abzulegen und wieder tief zu fühlen und tiefe Gefühle zu verschenken.
Dafür muss ich mich zum einen an die schlimmen, verdrängten Erfahrungen erinnern, denn nur so können die abgespaltenen Seelenanteile wieder zu einer einheitlichen Persönlichkeit zusammengeführt werden. Zum anderen kann mir dadurch bewusst werden, dass die Erinnerung sich auf die Vergangenheit bezieht, dass es sich ‚nur‘ um eine Erinnerung handelt.
Das Anziehen der Rüstung als der notwendige Schutz für die Opfer
Damals, als die schrecklichen Ereignisse geschehen sind, musste ich die Rüstung anziehen. Jetzt aber brauche ich sie nicht mehr, da in meinem Umfeld keine schrecklichen Ereignisse mehr geschehen und ich kann selbst dafür Sorge tragen, dass dies so bleibt. Damals war ich hilflos, heute bin ich das nicht mehr! Ich bin handlungsfähig!
Dadurch wird deutlicher, was mit der Kategorie des Opfers gemeint ist. Als Opfer ist nämlich das Kind in Bezug auf seine Eltern oder seine Peiniger zu verstehen. Der Erwachsene dagegen, ist kein Opfer mehr. Er ist handlungsfähig.
Die Kategorie des Opfers bedeutet somit präzise, dass die Ursache der seelischen Erkrankung in der Vergangenheit liegt. Das Verhalten der erkrankten Person ist aber so, als wäre die Ursache unverändert aktiv.
Ich habe einmal mit einer Frau gearbeitet, welche 23 Jahre lang sexuell missbraucht worden ist. Erst als Kind von einem Widerling aus der Familie, dann von einem Bekannten. Dies hat schwere Schäden in ihrer Seele ausgelöst. Dann war sie jedoch 25 Jahre mit einem liebevollen und sanftmütigem Mann verheiratet, welcher ihr gegenüber sehr wohlwollend war und niemals in der Lage gewesen wäre, sie schwer zu verletzen. Dennoch viel es ihr unendlich schwer, ihre Rüstung abzulegen, welche sie seit ihrer Kindheit getragen hatte. Sie sagte mir damals: „Herr Dr. Hofweber, wenn Sie es gewöhnt sind, fast 50 Jahre eine Rüstung zu tragen, dann ist es unheimlich schwer, diese abzulegen.“. Damit hat sie natürlich recht. Ich sagte zu ihr damals: „Sie müssen ja nicht auf einmal die Rüstung ausziehen. Vielleicht versuchen Sie erst einmal, Ihr Visier zu öffnen, wenn sie sicher fühlen. Sie können es ja jederzeit wieder schließen. Falls Sie die Erfahrung machen, dass Sie nicht bedroht sind, könnten Sie ja vielleicht vorsichtig den Helm abnehmen. Sie können ihn gerne in der Nähe behalten. Schauen Sie einfach einmal, wie sich das anfühlt.“.
Das Ablegen der Rüstung als Weg der Heilung und des erfüllten Lebens
So langsam vollzieht sich die Heilung, wenn die Verletzung massiv war und lange unbewältigt ist. Gerade hier ist ein langsamer und behutsamer Heilungsprozess am besten in einem professionellen Umfeld und einem healing environment möglich, in welchem sich der Klient geborgen und sicher fühlen kann und von den Anforderungen des Alltags verschont ist. Darum kann man sich dann immer noch kümmern, wenn die Heilung begonnen und sich die Person stabilisiert hat.
Es ist aber auch nicht immer der Fall, dass der Heilungsprozess so lange dauert. Wichtig ist ganz grundsätzlich: In der Dauer des Heilungsprozesses liegt keine Wertung! So lange wie es braucht, so lange braucht es auch. Freilich ist es für den Klienten angenehmer, wenn der Heilungsprozess nicht so lange braucht. Dies ist aber nicht als eine Leistung des Klienten zu verstehen, sondern schlicht und ergreifend als ein Konglomerat aus Vergangenheit, Verletzung, Ressourcen und Charakter. All dies ist aber nicht als Leistung zu begreifen und entzieht sich in Bezug auf die Heilung der Wertung von ‚besser‘ und ‚schlechter‘.
Ich möchte aber noch von einem Beispiel aus meiner Praxis berichten, in welchem sich die Heilung unglaublich schnell vollzogen hat. Es handelte sich dabei um einen jungen Manager. Dieser war Ende 20 und schien von außen betrachtet völlig gesund zu sein: Attraktiv, schlank, aufrecht, charmant, erfolgreich und er strahlte ein starkes Selbstbewusstsein aus.
Im Gespräch zeigte sich jedoch, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stehe. Er könne überhaupt keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen. Auf tiefe Beziehung ließe er sich nicht ein. Die Avancen einer Frau, einer Chinesin, welche ihn sehr liebe, wehre er immer ab. Er lebe lieber unverbindlich.
Im zweiten Gespräch kamen wir schon auf das Thema der Rüstung, welcher er sich zugelegt hätte. Ich sagte zu ihm: „Wenn es für Sie nicht möglich ist, die Rüstung auszuziehen, werden Sie auch nicht erfüllt leben können.“. Er antwortete darauf: „Warum sollte ich denn meine Rüstung ausziehen, wenn ich mich in dieser sicher fühle?“. Ich erwiderte: „Wenn Sie einmal die Erfahrung gemachten haben, dass Sie sich nur mit einem Lendenschurz bekleidet frei bewegen können und sich sicher fühlen: Warum sollten Sie dann eine Rüstung tragen wollen?“.
Diese Idee hat bei ihm ziemlich eingeschlagen und er wollte für sich diesen Weg versuchen, wohl wissend, dass er sich erst einmal sehr verletzlich fühlen würde.
Und was ist passiert?
Er fing wieder an zu essen. Er vertrug die feste Nahrung wieder. Er öffnete sein Herz für die Chinesin, welche ihn liebte, heiratete sie, ging mit ihr nach China und eröffnete dort ein Hostel.
Beim letzten mal, als ich ihn sah, fragte ich ihn, wie es sich anfühle ohne Rüstung durch die Welt zu laufen und sich dennoch sicher zu fühlen? Er antwortete: „Großartig!“.
Hat er die Rüstung noch einmal angezogen? Natürlich nicht. Denn wer sollte sich eine Rüstung aufbürden, wenn er sich auch anders sich fühlen kann?
Diese Beispiele bringen uns endlich zu der Betrachtung der funktionalen Ordnung, deren Störung und deren Effekt auf unser Gefühlsleben
Kategorien: Philosophie der psychischen Gesundheit