von Dr. Gerhard Hofweber
Die Beiträge zur Philosophie der psychischen Gesundheit reflektieren unser Gefühlsleben, seine Störungen und seine Ordnung aus einer philosophischen Perspektive heraus. Die philosophische Betrachtung eröffnet neue Blickwinkel, lädt uns ein, bekannte Dinge neu zu betrachten und somit uns und die Welt neu kennen zu lernen.
Sie kann einen therapeutischen Prozess nicht ersetzen, aber sehr wohl unterstützen und damit sehr hilfreich für Ihren individuellen Erkenntnis- und Genesungsprozess sein.
Die Urteilsenthaltung als Hemmung
Es gibt noch eine weitere grundsätzliche Hemmung, die sowohl von psychologischer als auch von philosophischer Natur ist. Diese Form der Hemmung ist inzwischen nicht nur weit verbreitet, sondern sie wird auch vollkommen verkannt. Die Rede ist von der Urteilsenthaltung.
Nun kann man sich freilich die Frage stellen, in wie fern die Urteilsenthaltung eine Hemmung sein soll. Denn unter einer Hemmung verstehen wir ja den aktiven Widerstand, den ich selbst leiste und damit unwissentlich meine psychische Heilung verhindere. Die Urteilsenthaltung scheint auf den ersten Blick nicht nur keine Hemmung zu sein, sondern sie hat den Anschein das Resultat einer richtigen Überlegung zu sein. Man möchte nämlich nach Möglichkeit nicht urteilen. Urteilen wird dabei mit Werten gleichgesetzt.
Urteilen oder Werten, so meint man, ist mit einer Überhöhung der eigenen Person und mit einer Abwertung des anderen verbunden. Deshalb soll am besten gar nicht gewertet werden. ‚Ich möchte das gar nicht bewerten‘ ist ein ganz geläufiger Ausdruck geworden und er hat sogar die Attitüde des Tiefsinns. Werten, das ist etwas für Uneingeweihte, die noch nicht verstanden haben, dass dies zu vermeiden sei. ‚Wer gibt mir das Recht, über andere werten zu dürfen?‘, so denkt man.
Tatsächlich ist dies aber vollkommener Unsinn und die Verkennung der Conditio Humana. Denn zum einen müssen wir als Mensch werten, ob wir wollen oder nicht. Es gehört wesentlich zu unserem Menschsein dazu. Zum anderen ist das Werten auch nicht schlimm oder zu vermeiden. Werten ist nichts Negatives. Wichtig ist es allerdings, richtig zu werten. Das ist nicht immer einfach. Betrachten wir dies genauer:
Dass wir als Menschen werten müssen, dass der Mensch so zu sagen ein wertendes Lebewesen ist, zeigt sich zunächst darin, dass man bei dem Versuch, nicht werten zu wollen, in einen ähnlichen Zirkel wie in Bezug auf das Selbstbewusstsein gerät. Denn was steckt hinter der Motivation, nicht werten zu wollen?
Der Grund ist doch wohl der, dass das Werten als unpassend, einengend, anmaßend oder doktrinär empfunden wird. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass Werten schlecht sei. Dies bedeutet wiederum, dass das Werten als schlecht bewertet wird. Wir werten also, wenn wir das Werten vermeiden wollen und damit tun wir genau das, was wir vermeiden wollen. Dies ist aber kein individueller Fehler, sondern ein prinzipieller:
Das ist auch nicht weiter schlimm. Denn das Werten ist etwas, das unhintergehbar zu uns als Menschen gehört. Wir müssen werten, ob wir wollen oder nicht. Wir tun es auch ständig. Beispielsweise in Bezug auf den Geschmack: „Hat Dir das Essen geschmeckt?“; „Wie gefällt Dir meine neue Frisur?“; „Geht es Dir gut?“. Dies alles sind Fragen, die auf ein Werten zielen und bei denen man sich in der Regel auch nichts denkt. Wenn wir uns hier des Wertens enthalten wollten, wäre das offensichtlicher Unsinn, denn in irgendeiner Weise hat uns ja das Essen geschmeckt oder nicht geschmeckt, gefällt uns die Frisur oder eben nicht. Das Werten aufgeben zu wollen wäre gleichbedeutend damit, den emotionalen – und sogar noch grundlegender – den menschlichen Bezug zur Wirklichkeit aufgeben zu wollen.
Der eigentliche Grund, warum man nicht werten möchte, kommt in der Regel gar nicht in den Blick. Dieser wird deutlicher, wenn wir das Werten als Urteilen verstehen, was es ja auch ist. Nicht werten wollen bedeutet dann, nicht urteilen zu wollen. Und warum möchte man das nicht? Weil wir in aller Regel Urteilen mit Verurteilen verwechseln. Darin liegt der grundsätzliche Fehler.
Was ist der Unterschied zwischen Urteilen und Verurteilen? Die Kategorie des Urteilens kann sehr unterschiedlich sein. Etwas kann als schön, hässlich, angenehm, unangenehm, peinlich, erhebend, wahr, gelogen, falsch, richtig oder vieles anderes angesehen werden. All diese Adjektive beschreiben eine Weise des Urteilens.
Die Kategorie des Verurteilens dagegen ist die von schuldig oder unschuldig. Wenn wir also nicht urteilen wollen und die Kategorien nicht unterscheiden, so wollen wir der Intention nach nicht verurteilen, weil wir jemanden wegen seines Handelns nicht als schuldig oder nicht schuldig richten wollen. Dies hat ja auch seinen guten Sinn. Aber Urteilen und Verurteilen sind eben nicht dasselbe.
Das Verurteilen macht eigentlich nur in zwei Kontexten Sinn: im juristischen und im moralisch-religiösen Sinn. Psychologisch gesehen, ist für die psychische Krankheit und Gesundheit, der moralisch-religiöse Sinn viel bedeutender. Die juristische Verurteilung hat Konsequenzen für mein materielles Leben. Die moralisch-religiöse Verurteilung hat Konsequenzen für mein geistig-emotionales Leben. Natürlich kann eine juristische Verurteilung auch starke Auswirkungen auf mein Seelenleben haben. Im Grunde stellt es mich aber nur vor eine Härte des Lebens. Denn ich kann juristisch verurteilt werden, mich selbst aber moralisch vollkommen im Reinen mit mir befinden. Als Konsequenz erlebe ich eine Reihe von teils immensen Unannehmlichkeiten. Das ist hart, aber es macht mich nicht unmittelbar krank. Die Krankheit ist subtiler angelegt, nämlich auf der Ebene der moralischen Verurteilung. Den religiösen Kontext möchte ich dabei hier nicht weiter verfolgen, einfach deshalb, weil er an Bedeutung abgenommen hat, wohl wissend, dass er noch immer vorhanden ist.
Nehmen wir ein Beispiel: Die Eltern trennen sich, solange das Kind noch sehr jung ist. Das Kind weiß, dass es anstrengend sein kann, dass es die Eltern wütend gemacht hat, dass es nicht immer das getan hat, was die Eltern von ihm verlangt haben. Und jetzt, wenn die Eltern sich trennen, fühlt es sich schuldig. Es hätte braver sein, mehr auf die Eltern hören, sie mehr entlasten sollen, so denkt und fühlt es. Aber es war nicht so und jetzt fühlt es sich schuldig. Das Kind denkt, dass es selbst Schuld an der Trennung der Eltern hätte. Das ist zwar nicht richtig, denn die Beziehung der Erwachsenen und die Auflösung einer solchen Beziehung wird zwischen den Erwachsenen entschieden. Sie allein tragen die Verantwortung dafür.
Das Kind dagegen ist unschuldig und kann nichts dafür. Aber dies erlebt das Kind nicht so. Es übernimmt die Schuld an der Trennung. Damit ist ein hohes Maß an Scham verbunden. Das Kind schämt sich, dass es so schlecht war, dass wegen ihm die Eltern nicht zusammen bleiben konnten. Dies ist eine Quelle der psychischen Krankheit. Welche Krankheiten sich daraus ausbilden ist mannigfaltig. Das Gefühl der Schuld und der Scham kann zu Depressionen, Essstörungen, Suchtverhalten und Persönlichkeitsstörungen führen. All diese Krankheiten bedürfen der Behandlung. Wenn Sie sich auf einen Klinikaufenthalt oder eine Therapie einlassen, werden Sie auf dem Weg begleitet, auf dem Sie erkennen, dass Sie unschuldig sind. Sie sind nicht verantwortlich für das Schicksal Ihrer Eltern! Die Eltern sind Erwachsen und haben ihr Leben selbst zu verantworten ganz unabhängig davon, ob es gelungen ist oder nicht. Die Kinder sind nur die Kinder! Die Kinder haben das Recht, Kinder zu sein! Dies beinhaltet, dass sie stören dürfen, nicht berechnend denken, Bedürfnisse unmittelbar erfüllt bekommen dürfen, kein erwachsenes Zeitgefühl haben und immer wieder laut sind und sich dem Tagesablauf nicht unterordnen. Dies alles mag für die Eltern nicht leicht sein. Aber es ist die Aufgabe der Eltern, dies zu moderieren, zu organisieren und einen Rahmen zu gestalten, in welchem die Kinder Kinder sein dürfen. Die Kinder sind unschuldig!
Nehmen wir noch ein anderes Beispiel, welches, wenn es vorkommt, oftmals im Kreise der Familie vorkommt: den sexuellen Missbrauch. Für ein Kind ist dies ein Katastrophe, denn es ist oftmals dem Täter in kindlicher Liebe verbunden. Diese Liebe ist aber keineswegs sexuell, sondern sie wird von dem Familienangehörigen ausgenutzt für seine Bedürfnisse. Für die kindliche Seele ist der sexuelle Übergriff nicht zu verarbeiten, weil dieser in seiner Erlebniswelt gar nicht vorkommt und nicht vorkommen dürfte. Um die schrecklichen Erlebnisse verarbeiten zu können, muss sich das Kind von sich selbst distanzieren, um die Schmerzen und die inneren Konflikte aushalten zu können. Dazu kommt aber noch, dass es sich oftmals selbst die Schuld daran gibt, dass es überhaupt dazu gekommen ist. Es fühlt sich verpflichtet, beispielsweise dem geliebten Vater willfährig zu sein, spürt jedoch das dies falsch ist und gibt sich selbst die Schuld dafür. Die Schuld und die damit einhergehende Scham führen dann später in die Depression, die Persönlichkeits- oder bipolare Störung und ganz allgemein zu verschiedenen psychischen Erkrankungen.
Für die Heilung ist es essentiell, dass die Opfer begreifen, dass sie unschuldig sind! Dies ist leicht gesagt. Aber es reicht eben nicht aus, dies auf einer Informationsebene zu verstehen, sondern es muss aus tiefstem Herzen heraus begriffen und gefühlt werden. Die Aufgabe der Psychiater ist es, den Prozess medikamentös zu unterstützen. Die Aufgabe der Therapeuten ist es, den Prozess professionell zu begleiten. Ein stationärer Aufenthalt und ein healing environment können dabei eine große Unterstützung sein.
Aus der philosophischen Perspektive heraus ist es entscheidend, Urteilen nicht mit Verurteilen zu identifizieren. Dies ist zunächst ein gedanklicher Prozess, kein emotionaler. Emotional wird es eben dann, wenn nicht richtig unterschieden wird. Wenn es dann zur Krankheit und all ihren Folgen kommt, ist die rationale Analyse kaum mehr möglich. Hier muss dann der therapeutische Prozess einsetzen.
Wir fassen also zusammen: Die Kategorie Schuld und Unschuld hat im Wesentlichen im Juristischen oder Moralischen seinen Ort. Außerhalb dieser aber nicht! Alle anderen Formen der Urteile oder Wertungen sind überhaupt nicht mit der Kategorie schuldig oder unschuldig verbunden. Was sollte diese Kategorie auch mit dem Geschmack des Essens oder meiner Befindlichkeit zu tun haben? Nur wenn mich jemand mit einem wohlschmeckenden Essen vergiften wollte, hätte die Kategorie eine Bedeutung, aber das ist ein ganz akzidentelles Beispiel.
Die drei grundsätzlichen Formen des Urteilens: theoretisch, praktisch und ästhetisch
Welche Bedeutung hat Werten oder Urteilen aber dann, wenn es nicht juristisch oder moralisch verstanden wird? Urteilen bedeutet, etwas innerhalb einer bestimmten Kategorie zu erkennen und zwar in dem Maßstab, den die Kategorie fordert. Dabei gibt es drei Grundformen, drei substantielle Kategorien in denen der Mensch urteilt, weil er als vernünftiges Wesen sich denkend auf die Welt bezieht. Gemäß diesen Kategorien gibt es auch drei Formen des Urteilens: das theoretische Urteil, das praktische Urteil und das ästhetische Urteil. Im theoretischen Urteil bewerte ich etwas als wahr oder falsch, im praktischen Urteil als gut oder böse bzw. schlecht, im ästhetischen Urteil als schön oder häßlich.
Diese drei Formen des Wertens lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Somit gibt es nicht eine Grundkategorie des Wertens, sondern drei. Alle anderen Formen des Urteilens lassen sich aber auf eine der drei Grundformen zurückführen. Schuldig und unschuldig basiert auf der Form des praktischen Urteils und setzt dieses in den moralischen oder juristischen Kontext. Geschmacksurteile lassen sich auf das ästhetische Urteil zurückführen. Immanuel Kant hat deshalb seine drei Hauptschriften, die sogenannten drei Kritiken, auf jeweils eine dieser Grundkategorien bezogen (wobei er in diesem Zusammenhang nicht von Kategorien gesprochen hätte): Die Kritik der reinen Vernunft, Die Kritik der praktischen Vernunft und Die Kritik der Urteilskraft. Wie die beiden ersten Titel erahnen lassen, sind die Formen des Wertens und des Urteilens Ausdruck der Vernunft des Menschen. Insofern der Mensch vernünftig ist, wertet er. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn er sich im Rahmen seines Handelns und der praktischen Vernunft am Guten orientiert.
Der Platonische Gedanke der Einheit des Schönen, Wahren und Guten
Als vernünftiges Wesen ist der Mensch auf Wahrheit, das Gute und das Schöne bezogen. Dies ist es, was ihn zum Menschen macht. Platon hat diese drei Entitäten, das Schöne, Wahre und Gute sogar so innig verbunden gesehen, dass er sie als Einheit aufgefasst hat. Diesen Gedanken können wir vielleicht am ehesten erahnen, wenn wir uns einen Menschen vorstellen, der selbstlos das Gute tut und sich jemanden liebevoll hinwendet. Einen solchen Menschen würden wir auch schön finden und sein Tun als wahr ansehen.
Was Platon mit der Idee der Einheit formuliert hat, zählt zu den großartigsten Erkenntnissen der Philosophiegeschichte und es ist ganz wunderbar sich klarzumachen, dass das Gute auch wahr und schön ist, ebenso wie die Wahrheit gut und schön ist. Wer diese Zusammenhänge in ihrer Tiefe begreift und in seinem Leben umzusetzen versteht, darf als ein weiser Mensch angesehen werden.
Urteilen nicht als Verurteilen sondern als Beurteilen
Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir den Ausdruck ‚urteilen‘ mit ‚beurteilen‘ gleichsetzen. Der Ausdruck ‚beurteilen‘ liegt nämlich weiter von der Bedeutungsebne des ‚Verurteilen‘ entfernt und damit liegt die Verwechselung nicht so nahe. Wenn Sie die beiden Ausdrücke ‚Urteil‘ und ‚Beurteilung’ auf der Zunge schmecken, dann begreifen Sie sofort, dass Sie einen andern Geschmack haben. Die Metaphorik der Begriffe ist eine andere. Der Inhalt ist aber tatsächlich derselbe. Beides ist ein Werten, aber das semantische Feld ist ein anderes.
Es ist also auf der einen Seite unmöglich auf das Werten zu verzichten, da dies bedeuten würde, auf die Vernunft zu verzichten. Die Vernunft ist aber die Substanz des Menschen, das, was ihn im Kern ausmacht und nicht nur eine Eigenschaft des Menschen neben anderen. Die Substanz ist nun genau dasjenige, was gar nicht weggelassen werden kann. Eigenschaften ändern sich und können verschwinden. Aber sie finden sich immer an einer Substanz, die nicht verschwinden kann.
Auf der anderen Seite ist es aber nicht nur unmöglich, auf das Werten und Urteilen und damit auf die Vernunft zu verzichten, sondern es ist auch vollkommener Unsinn. Warum sollte man auf die Vernunft verzichten wollen? Zusätzlich versucht man ja auch noch, die Verzichtserklärung vernünftig zu begründen, so dass wir hier wieder in den oben angesprochenen Zirkel geraten. Man kann ja schwerlich auf die Vernunft verzichten wollen, indem man sich auf die Vernunft beruft.
Auch ein Handeln wäre dann gar nicht mehr möglich. Handeln bedeutet, sich selbst zu einer Handlung zu bestimmen, weil man sie unter den gegebenen Umständen für gut befindet. Entscheiden heißt immer, das zu wählen, was man unter den gegebenen Optionen für besser hält und damit für gut befindet. Etwas für gut befinden ist aber eine Wertung.
Der Versuch, auf das Werten verzichten zu wollen, ist also unmöglich und in sich total unsinnig. Der eigentliche Grund, warum dies von vielen gerade der nachdenkenden Menschen versucht wird, ist die Reduzierung des Denkens auf den Verstand. Dieser vermag es nämlich nicht, in die Tiefen zu gelangen, die der Vernunft vorbehalten sind. Wenn die Prinzipien aber nicht vernünftig erkannt werden, bleibt im Menschen eine Leere zurück, die durch seine Bemühungen, die Sache verstehen zu wollen nicht gefüllt werden kann. Da die meisten Menschen die Leere als eine Folge des Denkens und nicht als eine Folge des falschen Denkens interpretieren, entsteht die Idee, es doch besser ohne das Denken zu versuchen. Das ist aber eben erstens falsch und zweitens selbst ein Produkt des Verstandes und somit Ausdruck des falschen Denkens.
Die Lösung liegt also nicht im Verzicht auf das Denken, Urteilen und Werten, sondern im richtigen Denken, Urteilen und Werten. Der Verzicht auf das Urteilen ist in Hinsicht auf die Versöhnung mit der Vergangenheit als eine Hemmung anzusehen, die es zu überwinden gilt. Sich hinter der vermeintlichen Weisheit der Urteilsenthaltung zu verstecken führt nicht nur zu nichts, sondern stellt sich der Versöhnung aktiv entgegen. Die Versöhnung ist ja verbunden mit der Konfrontation mit dem Schmerz, den ich erfahren musste. Um spüren zu können, wie schlimm es damals war, müssen meine Gefühlsrezeptoren offen sein. Ich muss mir endlich erlauben, die damalige Situation angemessen zu bewerten: mit Schrecken, Verzweiflung, Wut, Aggression, Trauer. Die Erfahrung als schrecklich zu bewerten ist absolut entscheidend für die Lösung und die Versöhnung. Wenn ich nun hier eine nonchalante Gleichgültigkeit an den Tage lege und so tue, als ob das doch alles nicht so schlimm gewesen sei, lasse ich mein inneres Kind im Stich und verrate meine echten Gefühle, die Wahrheit und damit mich selbst. ‚So war es halt‘, sagt man dann vielleicht und fühlt sich dabei reif und erwachsen.
Aber diese zelebrierte vermeintlich professionelle Unempfindlichkeit ist in Wahrheit der verzweifelte Versuch, nichts mehr zu fühlen. Dann, so glaubt man, kann man endlich mit dem Schmerz umgehen. Tatsächlich wird er aber nur deshalb nicht gespürt, weil ich mich selbst betäube durch Dumpfheit, Ablenkung und mit pseudoklugen Theorien. Die Urteilsenthaltung ist eine solche Theorie und es ist erschreckend zu sehen, wie weit sie verbreitet ist. Dies lässt nämlich im Umkehrschluss die Vermutung zu, dass sehr viele Menschen tief verletzt sind und auf diese Weise versuchen, damit im Leben klar zu kommen. Diese Strategie des Umgangs mit dem Schmerz lässt aber nur ein Überleben zu. Ein erfülltes Leben ist so nicht möglich.
Ob es ein kausales Verhältnis zwischen der Theorie der Urteilsenthaltung und dem Verdrängen des eigenen Schmerzes gibt, ist schwer zu sagen. Es ist auch nicht klar, was in dem Falle Ursache, was Wirkung wäre. Sicher ist aber, dass es eine Korrelation zwischen Urteilsenthaltung und Verdrängung gibt. Die Vermeidung des Wertens legitimiert die Verdrängung. Sie liefert gleichsam die Theorie dazu auf einer pseudophilosophischen Ebene. Beide sind aber Ausdruck der Hemmung. Beide müssen überwunden werden, um sich selbst zum mir eigenen Leben zu befreien.
Kategorien: Philosophie der psychischen Gesundheit